Zur Kirschblüte in Tokio
Tokio empfängt uns mit einem Schock, mit einem Erlebnis, das uns auf diese Weise wohl in keiner anderen Stadt der Welt hätte widerfahren können. Und dabei ist dies hier nicht irgendeine Stadt, der Großraum Tokio ist mit mehr als dreißig Millionen Einwohnern die größte Metropolregion der Welt.
Wir sind gerade angekommen, überwältigt und übermüdet, und mein Mann Martin lässt im Zug vom Flughafen in die Innenstadt seinen Rucksack samt Papieren, Geld und Laptop liegen. Das fängt ja gut an, denken wir frustriert, und malen uns aus, wie wir die ersten Tage unserer Reise mit Behördengängen, Karten sperren lassen und ähnlichen nervigen Erledigungen verbringen. Doch mein Bruder Ralf, der seit knapp einem Jahr in Tokio lebt und uns am Flughafen in Empfang genommen hat, winkt ab. In Japan wird nichts geklaut, erklärt er, den Rucksack kriegen wir an der Endstation wieder.
Wir können es kaum glauben, aber einen Versuch ist es wert. Also warte ich am Bahnsteig mit dem Gepäck und informiere die Vermieterin unserer Ferienwohnung, dass es später wird, während die beiden Männer in die nächste Bahn steigen. Zwanzig Minuten später sind sie zurück. Mit Rucksack.
Über dieses Phänomen werde ich noch viele Mal staunen während unserer zweiwöchigen Japanreise. Keine Frau nimmt hier im Café ihre Handtasche mit auf die Toilette, niemand schließt sein Fahrrad ab und die allgegenwärtigen blauen Planen, mit denen die Japaner sich fürs Kirschblütenfest Plätze auf dem Rasen im Park reservieren, werden mit allen möglichen Besitztümern am Boden fixiert, sogar mit Laptops. Ohne dass deren Besitzer in Sichtweite bleiben, wohlgemerkt.
Es ist April, Zeit der Kirschblüte. Allerdings ist es im Frühjahr 2015 ungewöhnlich kalt in Tokio, sogar Schnee wirbelt durch die Häuserschluchten der Stadt. Trotzdem machen wir noch einen Abendspaziergang in unserem Viertel. In Shimokitazawa fühlen wir uns spontan heimisch, es gibt viele hippe kleine Läden, Cafés und Bars, in den Seitenstraßen überwiegen Einfamilienhäuser mit winzigen, aber liebevoll angelegten Gärten. Den Abend lassen wir in einem traditionellen Restaurant ausklingen, wo wir auf Matten am Boden sitzend speisen.
Am nächsten Tag ist es sonnig und warm und wir besuchen den Shinjuku-Gyoen-Garten, einen zentral gelegenen Park, wo wir zusammen mit tausenden Japanern und Touristen die blühenden Kirschbäume fotografieren. Danach steht schon gleich ein ganz besonderes Highlight auf dem Programm, eine Führung durch das Erdbebenzentrum. Eigentlich eine Institution für Einheimische und deshalb auch nur auf Japanisch, doch wir haben das Glück, als Gäste dabei sein zu dürfen. In Gummistiefeln und Schutzanzug trotzen wir einem künstlichen Taifun, in einem nachgebauten Zimmer spüren wir am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, wenn die Erde bebt, und lernen, dass man nach dem Beben als Erstes den Gashebel umlegen soll, der in jeder japanischen Wohnung gut sichtbar in der Küche angebracht ist.
Nach dem Überlebenstraining genießen wir die Aussicht vom 634 Meter hohen Sky Tree, dem höchsten Turm und zweithöchsten Bauwerk der Erde. Leider ist die Luft diesig, sonst könnte man von hier aus bis zum Fuji schauen. Der Blick über die Stadt ist trotzdem spektakulär. Wir entdecken sogar einen winzigen Nachbau des Eifelturms zwischen den Hochhausschluchten. Als wir erfahren, dass der nach dem 2. Weltkrieg errichtete Tokio Tower mit 332 Metern das Original in Paris sogar um knapp zehn Meter überragt, bekommen wir zum ersten Mal ein Gefühl für die gigantischen Dimensionen dieser Stadt.
Nachbauten gibt es hier übrigens auch noch an anderer Stelle. In Odaiba machen wir Fotos an der Freiheitsstatue. Und der Bahnhof im Stadtteil Marunouchi ähnelt auffallend dem in Amsterdam. Den Abend lassen wir am Senso-ji oder auch Asakusa Tempel ausklingen. Der älteste buddhistische Tempel der Stadt und seine Pagode machen sich wunderschön in leuchtendem Rot vor dem tiefblauen Abendhimmel, an den Buden gibt es Souvenirs, Kunsthandwerk und Naschereien.
Am nächsten Morgen ist es windig, was uns aber nicht davon abhält, früh aufzubrechen. Unser Ziel ist der Tsukiji Fischmarkt. Inzwischen ist der ehemals größte Fischhandelsplatz der Welt an einen anderen Standort umgezogen. Aber wir hatten 2015 noch das Glück, dem bunten Treiben mit den rasend schnellen Hubwagen, den exotischen Meerestieren und dem Rufen der Händler zusehen zu dürfen.
Nach einer Stärkung fahren wir mir dem Zug nach Kita Kamakura, wo wir einen Spaziergang durch den Wald zum Daibutsu Buddha machen. Am Eingang zum Tempelbezirk findet sich wie üblich das Wasserbecken mit Kelle zur symbolischen Reinigung. Die korrekte Reihenfolge lautet übrigens: erst die linke Hand, dann die rechte Hand, dann mit der linken Hand den Mund ausspülen, die linke Hand erneut waschen und zum Schluss die Kelle reinigen.
Der Buddha ist mit mehr als 13 Metern Höhe so riesig, dass er von innen begehbar ist. Dieses einzigartige Erlebnis lasse ich mir natürlich nicht entgehen.
Nach dem Tempelbesuch trinken wir Tee in einer zauberhaften kleinen Teestube, bevor wir zum Strand spazieren und ich zum ersten Mal in meinem Leben die Füße in den Pazifik tauche. Überall im Ort zeigen Schilder die Fluchtwege im Fall eines Tsunami an. Der folgenschwere Tsunami von 2011 liegt gerade mal vier Jahre zurück, und in mir breitet sich ein mulmiges Gefühl aus.
Zurück in Tokio machen wir Stopp an einer der wohl berühmtesten Kreuzungen der Welt: Shibuya Crossing am gleichnamigen Bahnhof. Fasziniert beobachten wir, wie die Menschen sich, choreografiert vom Licht der Ampeln, über die Zebrastreifen bewegen, wie die Straße sich in gleichmäßigem Rhythmus leert und füllt wie eine Herzkammer, durch die Blut gepumpt wird.
Die nächsten zwei Tage verbringen wir mit der Besichtigung verschiedener Stadtteile (Kichiyoyi, Shinyuku, Harajuku, Odaika, Ginza, Roppongi) und Shoppen und lassen uns abends durch die schummrigen Gassen am Yurakucho Bahnhof treiben.
Am Ostermontag ist es sehr warm und ich besteige mit meinem Bruder den Takao, den Hausberg Tokios. Die erste Etappe bewältigen wir mit der Standseilbahn, den Rest zu Fuß. Ein bisschen kommt es mir so vor, als würden wir in der Eifel wandern, wären da nicht die vielen Schreine am Wegesrand. Im Ausflugslokal auf dem Gipfel gibt es Ramen, also Gemüsesuppe mit Nudeln. Und normalerweise auch einen wunderbaren Blick auf den Fuji, doch der verhüllt sich schon wieder.
Am nächsten Tag besuchen wir bei Dauerregen das Edo Tokio Museum und gehen abends ins Ninja Restaurant, ein sehr cooles Erlebnis mit feinem Essen. Am Mittwoch ist aus dem Regen Schnee geworden. Wir kämpfen uns durch die wirbelnden Flocken zum Museum für Druckkunst. Die Mühe lohnt sich, die Ausstellung ist genial! Am nächsten Tag ist es zwar noch immer kalt, aber die Sonne scheint. Wir fahren ins Freilichtmuseum Nihon Minkaen, wo wir wunderschöne alte Holzhäuser bewundern und eine filigrane aus einem Grashalm gefaltet Heuschrecke geschenkt bekommen, die wir sogar heil heimtransportieren und die noch immer einen Ehrenplatz in unserem Haus hat.
Abends geht es ins Kneipenviertel Golden Gai, bevor wir in Shimokitazawa in unserem Lieblings-Spießerestaurant zu Abend essen. Auf dem Heimweg fällt mir nicht zu ersten Mal auf, wie still diese Stadt ist. Dreißig Millionen Einwohner, aber man hört kaum den Verkehr. Ich habe in London gelebt, wo Tag und Nacht der Verkehr brüllt, Flugzeuge röhren und fast immer von irgendwo her eine Sirene zu hören ist. Nicht so in Tokio. In den Wohnsträßchen begegnet uns nicht einmal ein Auto. Was auch daran liegt, dass man in Tokio nur einen PKW kaufen darf, wenn man nachweist, dass man einen Parkplatz dafür hat. Eine sehr vernünftige Regelung, zumindest wenn der öffentliche Nahverkehr so perfekt funktioniert wie hier.
Die Woche in Tokio ist viel zu schnell vergangen. So viel gäbe es noch zu sehen. In der zweiten Hälfte unseres Japantrips reisen wir durchs Land, fahren mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen nach Kyoto und Himeji. Die Route führt nah am Fuji vorbei, aber auch diesmal verhüllt er sich vor uns.
Als wir nach zwei Wochen voller neuer Eindrücke den Heimweg nach Deutschland antreten, steht eins fest: Wir kommen wieder. Denn niemand kann sagen, er hat Japan bereist, wenn er nicht wenigstens einmal den Fuji gesehen hat. Na, wenn das keine schöne Aussicht ist …