Tongariro Alpine Crossing
Es ist diesig an diesem Morgen, der Himmel fast weiß, und die Sonne geht blutrot neben dem Krater des Mount Ngauruhoe auf, dem Schicksalsberg aus „Der Herr der Ringe“. Ein Schauder überläuft mich und mir kommen unwillkürlich Legolas‘ Worte in den Sinn: „A red sun rises, blood has been spilled this night.“ Ich senke den Blick, betrachtete die Reihe Wanderer vor mir, und das mulmige Gefühl verschwindet, auch wenn ein bisschen Gänsehautfeeling bleibt, das mich den Rest des Tages begleiten wird. Immerhin werde ich einen aktiven Vulkan überqueren, und knapp vier Wochen zuvor sind bei einem plötzlichen Ausbruch auf der neuseeländischen Vulkaninsel White Island zweiundzwanzig Menschen zu Tode gekommen.
Mein Mann Martin und ich sind um halb fünf aufgestanden an diesem 2. Januar 2020, um den Pendelbus zu erwischen, der uns zum Startpunkt des Tongariro Alpine Crossing bringt, des wohl berühmtesten Wanderweges in Neuseeland. Noch hocken nur wenige Mitreisende auf den Sitzen, verschlafen und zugleich aufgekratzt, genau wie wir. Doch wir sammeln weitere Wanderwillige ein, und als wir zwanzig Minuten später auf dem Parkplatz im Mangatepopo Valley eintreffen, ist der Bus nicht nur fast voll, es stehen bereits zwei weitere vor dem Einstieg in den Weg. Den ganzen Vormittag lang werden sie Menschen, die den Track laufen wollen, hier absetzen, und ab Mittag werden sie damit beginnen, die Ankommenden vom Zielparkplatz in der Ketetahi Road zu ihren Ausgangspunkten zurückzufahren.
Ganz allein die einzigartige Landschaft genießen werden wir nicht auf diesem Weg, aber wir merken bald, dass das gemeinschaftliche Erlebnis mit Wanderern aus allen Teilen der Welt auch etwas Besonderes ist. Die Stimmung ist kameradschaftlich, man hilft sich gegenseitig aus, beim Fotografieren und mit Blasenpflastern, bewundert gemeinsam die spektakulären Ausblicke.
Knapp 20 Kilometer alpine Bergwanderung mit 765 Metern Anstieg liegen vor uns. Für Ungeübte durchaus eine Herausforderung, zumal sich darunter auch Geröllfelder mit losem Lavagestein und sehr steile Anstiege befinden.
Wegen der vielen Gefahren, etwa durch vulkanische Aktivität oder Wetterumschwünge, vor allem aber auch durch den Leichtsinn einiger Wanderer, müssen wir uns mit Namen und Handynummer registrieren, und am Ende des Tages wird kontrolliert, ob auch alle das Ziel erreicht haben.
Die erste halbe Stunde geht es fast eben auf die Berge und die glühend rote Sonne zu.
Wir laufen über den nur hier und da mit Gräsern bewachsenen kargen Boden und lassen uns Zeit, machen bereits hier zahllose Fotos, denn wir haben ja den ganzen Tag. Es ist noch keine sechs, den letzten Bus um 18:00 Uhr erreichen wir ohne Mühe, egal wie langsam wir sind. Das zumindest glauben wir.
Es geht an einem Bachlauf entlang, teilweise über Holzstege, und nach etwa einer halben Stunde machen wir Rast auf einem Felsbrocken, nicht weil wir bereits müde sind, sondern weil wir noch nicht gefrühstückt haben. Kurz vor dem ersten richtigen Anstieg erreichen wir die Soda Springs, ein kleiner Wasserfall, zu dem ein kurzer Abstecher vom Hauptweg führt. Hier gibt es auch die ersten Toiletten nach dem Parkplatz – und die letzten für viele Kilometer. Einfache, aber saubere Trockentoiletten, die verhindern, dass die zahlreichen Wanderer die Landschaft verschandeln.
Ab jetzt geht es richtig bergauf, und zwar über die Devil’s Staircase, eine der schwierigsten Passagen der Wanderung. Über zahllose steile Stufen steigen wir hinauf auf 1650 Meter zum South Crater, der nächsten Etappe. Schilder warnen, dass das hier erst der Anfang ist, und Wanderer, die jetzt schon erschöpft sind, übers Umkehren nachdenken sollten. Niemand tut das, aber einige brauchen viele Zwischenstopps auf dem Weg nach oben, und auch wir kommen ganz schön aus der Puste. Am Ende der Stufen wird man mit einer kurzen ebenen Etappe belohnt, die quer durch den gigantischen Krater führt. Mehr als 500 Höhenmeter haben wir nun bereits bewältigt, und die Aussicht ist spektakulär. Die Landschaft ist so fremdartig, steinig, karg, voller ungewöhnlicher Farbschattierungen und bizarrer Formen, dass wir glauben, durch ein Tor in eine andere Welt getreten zu sein. Es würde uns nicht wundern, wenn plötzlich eine Horde Orks am Horizont auftauchen würden.
Ein kurzer steiler Anstieg führt uns schließlich auf den Kraterrand. Auf der anderen Seite taucht eine der unglaublichsten Formationen dieser Vulkanlandschaft auf, der Red Crater. Wie die Pforte zu Hölle tut sich der rote Krater zu unseren Füßen auf. Der Anblick ist atemberaubend und macht uns einmal mehr klar, wie extrem menschenfeindlich diese Gegend ist. Es gibt nicht einmal trinkbares Wasser.
Von hier aus geht es noch einmal so richtig steil hoch, ohne Stufen, und zum Glück ist die Strecke nur wenige Hundert Meter lang. Aber die haben es in sich. Die höchste Stelle der Wanderung, der Red Crater Summit mit 1886 Metern Höhe ist unspektakulär, eine kleine Kuppe mit einem Steinhaufen, dem auch wir je ein Exemplar hinzufügen. Noch einmal kann man von hier aus hinabblicken in den tiefen roten Kraterschlund.
Der Abstieg beginnt mit einem steilen Geröllfeld. Fast niemand schafft es, das Stück zu meistern, ohne nicht wenigstens einmal auszurutschen, doch der Sturz ist verhältnismäßig weich. Und der Ausblick für mich der schönste der gesamten Wanderung, denn von hier aus schaut man auf die Emerald Lakes, drei türkisblaue Seen, die in der baumlosen graubraunen Landschaft unwirklich leuchten. Für diesen Anblick habe ich mein Stativ auf den Vulkan geschleppt. Jetzt baue ich es auf und schieße jede Menge Fotos, bevor ich zu den Seen hinabsteige.
Nach einer weiteren Rast geht es ein Stück über eine Ebene, dann folgt ein letzter kurzer Anstieg zum Blue Lake, wo noch einmal Toiletten stehen. Von hier aus geht es in weiten Kurven durch eine immer grüner werdende Landschaft zurück ins Tal. Der Blick auf die umliegenden Berge ist erneut atemberaubend. Und der auf den rechts vom Wanderweg liegenden Hang ein wenig gruselig. Rauch steigt aus Felsspalten auf, eine weitere Erinnerung daran, was sich unter unseren Füßen befindet.
Wir haben inzwischen allerdings ein anderes Problem. Es sind nur noch zwei Stunden, bis der letzte Bus abfährt, wir haben erst gut die Hälfte der Strecke zurückgelegt – und Martin hat sich eine schmerzhafte Blase gelaufen, sodass wir kaum vorwärtskommen. Wir rennen fast den Berg hinunter, machen zwischendurch kurze Pausen, um das Blasenpflaster zu erneuern.
Schließlich tauchen wir in einen Wald ein, gehen ein Stück an einem Bach entlang. Die Landschaft ist malerisch, aber uns bleibt nur noch eine halbe Stunde und wir haben keine Ahnung, wie lange wir noch brauchen. Als der Parkplatz mit dem wartenden Bus endlich vor uns auftaucht, sind wir unendlich erleichtert. Wir machen ein letztes Selfie vor dem Schild, das das Ende des Weges markiert und klettern auf unsere Sitze. Zwölf Stunden haben wir auf dem Berg verbracht, wir sind erschöpft, aber überglücklich.