Eine Reise durch ein nasses Vietnam
Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer von uns sich der Länge nach in den Matsch legen würde, und jetzt ist es passiert. Martin ist in den Graben gerutscht, krümmt sich vor Schmerzen, und ich frage mich, ob er mit dem ohnehin schon angeschlagenen Knie je wieder aufstehen kann. Wir sind in Sapa, im Norden Vietnams, irgendwo fernab jeglicher menschlichen Behausung. Um uns herum erstreckt sich die einzigartige Berglandschaft mit den Reisterrassen, die wir jedoch nicht sehen können, so dicht wabert der Nebel. Dazu nieselt es, und der rötliche Lehmboden ist so aufgeweicht, dass jeder Schritt ein Wagnis ist, vor allem, wenn es wie auf diesem Stück, steil bergab geht.
Dabei fing unsere Reise eine Woche zuvor so warm und sonnig an. Als wir Ende November 2022 in Hanoi aus dem Flughafengebäude treten, geht gerade die Sonne in warmen Orangetönen unter, und laue Abendluft hüllt uns ein. Wir glauben, der europäischen Winterkälte entronnen zu sein und sind schockverliebt in diese vor Leben sprühende Stadt mit ihren Garküchen, laut knatternden Motorrollern und mit Waren überladenen Fahrrädern. Obwohl es bereits am zweiten Tag merklich abkühlt, genießen wir fünf Tage lang das Leben im Freien, lassen uns vom Duft der fremdartigen Speisen verführen, lernen, eine Straße im Rhythmus des niemals innehaltenden Verkehrs zu überqueren, und staunen über die vielen kleinen Handwerksbetriebe in der Altstadt, wo es für jedes Gewerbe eine eigene Straße gibt: für Eisenwaren, für Verpackungen und Kartons für Heimtextilien und vieles mehr. Die Apothekerstraße, vor deren Ladenlokalen sich Körbe mit fremdartigen Heilpflanzen drängen, hat es mir besonders angetan.
Gleich am ersten Abend entdecke ich zudem eine kulinarische Köstlichkeit, von der ich in den folgenden vier Wochen nicht genug bekomme: Coconut Coffee, eine Art Frappé aus Kokosmilch und süßem vietnamesischem Kaffee. Auch wenn die Temperaturen zwischenzeitlich einstellig werden, muss ich an jedem neuen Ort eine weitere Variante meines neuen Lieblingsgetränks ausprobieren.
Natürlich besuchen wir in Hanoi auch die Train Street, eine schmale Gasse, gerade breit genug für den Zug, der hier mehrmals täglich durchfährt. Früher konnten Touristen einfach über die Schienen schlendern und in den Cafés auf den nächsten Zug warten. Inzwischen ist die Straße für Besucher gesperrt, ins Café darf man aber noch, indem man entweder schnell über die Gleise huscht oder sich von der Rückseite her durch dunkle Korridore führen lässt. Da wir ungeplant hier vorbeigekommen sind und längst wieder im Hotel sein wollten, frieren wir in unseren dünnen T-Shirts, während wir auf das große Ereignis warten. Das ist dann ernüchternd schnell vorüber. Ein lautes Signal, ein grelles Licht, das sich rasch nähert, die Lok, die blauen Waggons – und schon ist der Spuk vorbei. Trotzdem war das gemeinsame Warten mit den Einheimischen und den Touristen aus aller Welt ein spannendes Erlebnis.
Auf unseren Streifzügen durch Hanoi kommen wir, wie später auch in anderen Teilen des Landes, immer wieder mit Einheimischen ins Gespräch, im Taxi, im Geschäft oder im Restaurant, auch wenn die Kommunikation wegen der oft kaum vorhandenen Englischkenntnisse schwierig ist. Was uns dabei erstaunt, ist die Offenheit, mit der die Menschen sich über das sozialistische Regime beklagen, Angst vor Repressalien scheint es nicht zu geben.
Viel zu schnell vergeht die Zeit in der Hauptstadt Vietnams und das nächste Highlight unserer Reise steht an, eine zweitägige Kreuzfahrt durch die Halong Bucht. Unser Schiff, die Syrena, ist eins der wenigen, die noch aus Holz gebaut sind, die Kabine ein Traum mit einer riesigen Fensterfront, sodass wir vom Bett aus die Kalksteinfelsen bewundern können, die so malerisch aus dem südchinesischen Meer ragen, als wären sie als Kulisse für einen Fantasyfilm errichtet worden. Es ist kühl, der Himmel bleigrau, und um uns herum schwimmen Dutzende weitere Schiffe, doch das tut der Magie keinen Abbruch. Ich könnte stundenlang dasitzen, einen Tee in der Hand, und den Ausblick genießen.
Doch das Programm lässt nur wenige Verschnaufpausen zu. Auf einer Insel besichtigen wir eine riesige Tropfsteinhöhle, auf einer anderen erklimmen wir einen Aussichtspunkt, und ich lasse es mir nicht nehmen, trotz der bescheidenen Temperaturen im Südchinesischen Meer zu schwimmen.
Am nächsten Morgen verlassen wir früh das Schiff, denn wir sind die einzigen, die eine zweite Nacht an Bord gebucht haben. Während die Syrena unsere Mitreisenden zurück in den Hafen bringt und neue Gäste aufnimmt, verbringen wir den Tag auf einem Ausflugsboot, das wir fast für uns haben. Wir besuchen eine Perlenfarm, lassen uns durch Höhlen paddeln und – das absolute Highlight – besuchen eine weitere Höhle, in der wir vollkommen allein sind.
Als wir die Handylampen ausschalten, herrscht absolute Finsternis. Und Stille.
Auf halben Weg durch das Höhlensystem, das wir an einigen Stellen tief gebückt ergründen, erreichen wir eine Öffnung, die uns einen Blick auf die Inselmitte mit einer traumhaft schönen Lagune ermöglicht. Wir sind hin und weg.
Wehmütig verlassen wir am nächsten Vormittag die Syrena. Es geht zurück nach Hanoi und von dort noch am selben Abend mit dem Nachtzug Richtung Norden. Nun liegen wir selbst in einem der Waggons, die wir Tage zuvor in der Train Street fotografiert haben. Obwohl alles alt und klapprig ist und auch nicht wirklich unseren Anforderungen an Hygiene entspricht, schlafe ich erstaunlich gut in der schmalen Schlafkoje.
Vom Bahnhof in Lào Cai geht es am nächsten Morgen um sechs Uhr mit dem Minibus eine Serpentinenstraße hinauf nach Sapa. Die kleine Stadt liegt auf rund 1.600 Metern Höhe, es ist nass und kalt, die Reisfelder, die man von unserem Hotelzimmer aus eigentlich sehen könnte, verbergen sich im weißen Dunst. Ich war schon vor dem Abflug erkältet, und die bisher recht kühlen Temperaturen in Vietnam haben dafür gesorgt, dass ich noch immer nicht auskuriert bin. Richtig warme Winterklamotten habe ich nicht dabei, gegen die Kälte trage ich fünf Schichten Oberteile und unter der Hose noch meine Yoga-Leggings. Trotzdem friere ich.
Das bescheidene Wetter hält uns jedoch nicht davon ab, für den kommenden Tag eine geführte Wanderung von Dorf zu Dorf zu buchen. Wir sind neugierig auf die Region, in der verschiedene Volksgruppen, wie etwa die Hmong, die roten Dao und die Tay leben. Nach dem Frühstück holt uns unser Guide, eine einheimische Hmong-Frau in Gummistiefeln und bunter Tracht, im Hotel ab. Schon nach wenigen hundert Metern gesellen sich zwei weitere Frauen zu uns, die Körbe mit Stoffen, Tüchern und Armbändern auf dem Rücken tragen, handgefertigte Souvenirs, die man hier überall kaufen kann. Die jüngere ist gerade achtzehn und erzählt uns stolz, dass sie bereits verheiratet ist.
Anfangs sind uns die beiden Frauen lästig, doch wir werden ihre Gesellschaft noch schätzen lernen. Die ersten zwei Kilometer kommen wir gut voran, doch dann beginnt der Abstieg über die von Hunderten Schuhen glattgeschliffene Schlammpiste. Ich habe leichte Wanderschuhe an und komme halbwegs klar. Martin jedoch muss an der Hand unserer Führerin laufen. Bis ein besonders steiles Stück kommt und sie ihn nicht mehr halten kann. Er landet im Graben, sein lädiertes Knie schmerzt höllisch.
Doch zum Glück verfliegt der Schmerz rasch. Bleibt das Problem mit den Schuhen, denn der Abstieg hat gerade erst begonnen. Unser Guide weiß Rat. Sie lässt von ihrem Ehemann Gummistiefel in der passenden Größe bringen, und tatsächlich, damit geht der Abstieg viel einfacher. Die helfende Hand braucht Martin allerdings nach wie vor, und auch ich schaffe manche Stücke nur, weil die beiden Frauen, die uns anfangs so lästig waren, mich zwischen sich nehmen.
Weiter unten ist die Sicht etwas besser, sodass wir zumindest eine Ahnung bekommen, wie die Landschaft mit den Reisfeldern aussieht. Und auch die Einblicke in das schlichte Leben auf den Dörfern mit ihren offenen Wohnräumen, Werkstätten und Läden sind interessant. Unsere beiden Begleiterinnen verabschieden sich, im Tal brauchen wir ihre Hilfe nicht mehr. Bevor sie uns verlassen, breiten sie ihre Waren vor uns aus. Wir kaufen nichts, geben ihnen aber ein großzügiges Trinkgeld. Nach einem einfachen Mittagessen geht es noch eine kurze Strecke durchs Tal, und ich kaufe ein Stück handgefärbten Indigo-Stoff, bevor wir mit einem Taxi wieder zum Hotel gebracht werden.
Am nächsten Morgen fahren wir zurück nach Hanoi und von dort nach Ninh Binh, in die so genannte trockene Halong Bucht. Es ist unsere erste Fahrt mit einem Schlafbus und wir sind überrascht, wie bequem das Reisen in diesem Gefährt ist. Unser Hotel in Ninh Binh hingegen ist das einfachste auf der gesamten Reise. Wobei einfach nicht das Problem ist – es ist nicht sauber, weder unter dem Bett, noch darauf, und wir überlegen kurz, ob wir uns ein anderes Zimmer suchen sollen. Dann jedoch finden wir uns mit der Situation ab und buchen zur Entschädigung für den nächsten Stopp eine besonders luxuriöse Unterkunft.
Die trockene Halong Bucht ist alles andere als trocken, das merken wir schnell, als wir uns am nächsten Morgen auf Erkundungstour begeben. Ein Fluss schlängelte sich zwischen den Bergen hindurch, die tatsächlich an die Kalkfelsen in der Halong Bucht erinnern, die Felder rechts und links der schmalen Straßen stehen tief unter Wasser. Das kennen wir schon aus Sapa. Genau wie die Nässe, die von oben kommt. Während wir am ersten Tag den Aussichtspunkt noch im Trockenen erklimmen und auch die Bootsfahrt über den Fluss ohne Schirm genießen können, regnet es am zweiten Tag fast pausenlos. Da man bei dem Wetter nicht viel anderes machen kann, spazieren wir auf eigene Faust umher, was uns ungeahnte Einblicke in den Alltag der Menschen verschafft und an Orte bringt, an die sich außer uns keine Touristen verirren. Abends essen wir Pizza in einer gemütlichen Bar, in der ein offener Kamin entzündet ist. Es ist so kalt, dass es sich sogar eine kleine Katze direkt neben dem Feuer bequem macht.
Mit dem Nachtzug geht es noch am selben Abend weiter Richtung Süden. Ab hier reisen wir mit dem sogenannten Wiedervereiningungsexpress, der Hanoi im Norden mit dem 1.726 Kilometer entfernten Ho-Chi-Minh-Stadt im Süden verbindet und für die Fahrt über mehr als 1.300 Brücken rund 30 Stunden braucht. Der Bau der Strecke begann 1899 noch unter französischer Kolonialherrschaft und wurde 1936 mit dem Anschluss des letzten Teilstücks beendet. Damals hieß der Zug Transindochinois und die Reise war äußerst luxuriös, angeblich gab es sogar einen Kinowaggon und einen Frisör an Bord. Nachdem große Teile der Strecke erst im Zweiten Weltkrieg, dann im Indochina-Krieg und schließlich im Vietnamkrieg durch Luftangriffe und Sabotage zerstört wurden, setzte man sie nach der Wiedervereinigung Vietnams sehr schnell wieder instand, sodass sie bereits Ende 1976 neu eröffnet werden konnte. Inzwischen gibt es Pläne für einen Hochgeschwindigkeitszug, doch das ist Zukunftsmusik. Noch existiert nur die alte eingleisige Strecke, und so luxuriös wie zu Anfangszeiten ist die Reise längst nicht mehr.
Im Gegenteil. Auf dem ersten Teilstück reisen wir noch schlichter als nach Sapa, nämlich im Second Class Sleeper, was bedeutet, dass es nicht vier Schlafkojen pro Abteil gibt, sondern sechs. Die sind so eng, dass man nicht einmal aufrecht im Bett sitzen kann. Dafür erwartet uns an unserem Ziel ein Luxushotel mit Whirlpool und fürstlichem Frühstück.
In der alten Kaiserstadt Hué ist es zwar etwas wärmer als in Ninh Binh, doch noch immer nass, sodass wir uns bei der Besichtigung der Zitadelle vor dem Regen ins Café flüchten, um uns bei Tee und Keksen aufzuwärmen. Wir hätten uns gerne mehr von der Stadt am Parfümfluss angesehen, aber wir müssen bereits am folgenden Tag weiter.
Die nächste Station ist das wunderschöne, wenn auch sehr touristische Hội An. Hier ist es endlich richtig warm, und zumindest zeitweise trocken. Die Altstadt mit den gelb angestrichenen alten Häusern ist unglaublich fotogen, die unzähligen Laternen, die am Abend in den Läden, Restaurants und auf den Booten auf dem Fluss Thu Bon entzündet werden, tauchen alles in einen Rausch aus Licht und Farben. Wir lieben es, einfach nur durch die Gassen zu schlendern, aber wir müssen auch arbeiten, was bei der Auswahl an wunderschönen Cafés kein Problem ist.
Am zweiten Tag machen wir einen Ausflug zu den Tempelruinen von My Son. Trotz Regenschauer ist es ein beeindruckendes Erlebnis, zwischen den verfallenen Bauwerken aus roten Ziegeln umherzuschlendern, und wir setzen uns schon bald von der Gruppe ab, um den Ort in unserem eigenen Tempo zu erkunden. Zurück nach Hội An geht es mit dem Boot, danach verbringen wir den Abend in der bunt schillernden Altstadt und lauschen im Urban Café der Band Tống Mỹ Thiện mit ihrer stimmgewaltigen jungen Sängerin.
Am folgenden Abend fahren wir nach einem weiteren Arbeitstag in verschiedenen Cafés mit dem Taxi in die nächst gelegene Kreisstadt Đà Nẵng, wo uns die zweite Etappe im Wiedervereiningungsexpress erwartet. Zum Glück ist es wieder ein First Class Sleeper, denn die Reise dauert diesmal besonders lang. Erst um 14:00 Uhr am folgenden Mittag treffen wir an unserem Ziel, dem Bahnhof Binh Thuan, ein. Auf dem einsam gelegenen Vorplatz diskutieren wir erst mal mit den Taxifahrern. Eigentlich soll es hier auch einen Bus zu dem Küstenort Mũi Né geben, doch wir finden die Haltestelle nicht. Da wir zum müde für längere Auseinandersetzungen sind, lassen wir uns schließlich mit dem Taxi ins Hotel fahren. Und das liegt so herrlich direkt am Meer, dass alle Mühen der Anreise vergessen sind. Fünf Tage wollen wir hierbleiben. Ich hatte eigentlich vor, mein Manuskript zu überarbeiten, aber ich habe es noch nicht von meiner Lektorin zurückbekommen, deshalb schreibe ich am nächsten Band meiner Thrillerreihe weiter, dessen Abgabetermin schon in wenigen Wochen ist.
Wir verbringen die Tage mit dem Laptop in Cafés und am Hotelpool, nur einmal leihen wir uns einen Roller, um einen Ausflug zum Fairy Stream zu machen, einem Bach, der sich durch eine wüstenähnliche Dünenlandschaft zum Meer schlängelt.
Viel zu früh müssen wir erneut unsere Rucksäcke packen, mit dem Bus geht es nach Ho-Chi-Minh-City, dem ehemaligen Saigon, unserer letzten Station auf der knapp vierwöchigen Vietnamreise. Die Stadt gefällt uns, aber sie ist westlicher als Hanoi, und als wir auf dem Balkon eines Cafés gegenüber der Kathedrale sitzen, kommt es uns beinahe vor, als wäre wir zurück in Europa. Wir vermissen den quirligen asiatischen Charme, der uns zu Beginn unserer Zeit in Vietnam so gefangen genommen hat.
Doch auch hier erleben wir besondere Momente, etwa als wir im alten Hauptpostamt Karten schreiben, die wir statt in den Briefkasten in kleine Plastikkörbchen werfen (und die tatsächlich in Deutschland ankommen), oder in einem zauberhaften, sehr englischen Tearoom in einem verwinkelten Hochhaus voller kleiner Startups. Und am ersten Morgen stoßen wir beim Spaziergang im Park auf eine Ansammlung älterer Männer und Frauen, die in Weihnachtsmannkostümen tanzen, singen und picknicken. Ein Mann kann ein paar Worte Englisch und erklärt uns, dass es sich um die Weihnachtsfeier einer Gruppe von Rentnern handelt, die sich regelmäßig in diesem Park zum Sport treffen. Im Alltag kommen uns die Vietnamesen oft trübsinnig und verschlossen vor, hier erleben wir sie fröhlich und ausgelassen.
Ein letztes Mal bestimmt Wasser unseren Tag, bei einem Ausflug ins Mekong Delta. Wir werden mit anderen Touristengruppen über den Fluss geschippert, besuchen eine Bonbonfabrik und eine Imkerei, was uns leider nur einen flüchtigen Eindruck vom Leben in dem gewaltigen Flussdelta vermittelt. Am besten gefällt uns die Radtour, die wir auf eigene Faust mit klapprigen Leihrädern über eine der Inseln in dem gigantischen Strom machen. Zurück in Ho-Chi-Minh-City heißt es schon wieder packen. Früh am nächsten Morgen geht es auf in ein neues Abenteuer: Mit dem Überlandbus fahren wir ins benachbarte Kambodscha, wo vieles ähnlich wie in Vietnam ist, und vieles vollkommen anders. Doch davon ein anderes Mal mehr.