Europa

Zeitreise in Breslau

Auf den Spuren der deutschen Vergangenheit

Mein Nacken kribbelt, als ich vor der unscheinbaren Doppelthaushälfte stehe. Nichts Ungewöhnliches ist daran, außer vielleicht, dass das Häuschen frisch renoviert ist und in freundlich hellem Gelb strahlt, was in einer Stadt, in der an so vielen Stellen der Putz von den schmutzig grauen Fassaden bröckelt und die Fenster blind vor Staub sind, durchaus bemerkenswert ist.

Ich bin nach Wrocław gereist, dem ehemaligen Breslau, um mich auf Spurensuche zu begeben. Meine Großmutter ist hier aufgewachsen, meine Mutter wurde hier geboren, mitten im Krieg. Ich möchte Antworten auf Fragen, die mich schon lange umtreiben, und ich spiele mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben, der von der Geschichte meiner Familie inspiriert ist.

Die Stadt überrascht mich, sie ist jung, lebendig und kreativ. Es gibt noch immer viele schmuddelige Ecken und verfallene Häuser, aber ich entdecke auch spannende Läden, tolle Cafés, wunderschön restaurierte Gebäude und jede Menge Grünanlagen am Wasser, die zum Verweilen einladen.

Meine Spurensuche beginnt im Staatsarchiv, wo ich nicht nur Einblick in alte Adressbücher bekomme, die nicht online zu finden sind, sondern auch ein hundert Jahre altes Grundstücksgrundbuch einsehen darf. Zuvor muss ich jedoch mit Händen und Füßen mein Anliegen erklären. Der Wachmann am Empfang spricht keine Sprache außer Polnisch, und der junge Angestellte im Lesesaal kann nur ein paar Brocken Englisch und Deutsch. Aber es klappt. Aus dem Grundbuch geht hervor, dass der Vater meiner Großmutter 1919 ein Grundstück im Stadtteil Carlowitz verkauft hat, nur wenige Meter von dem Haus entfernt, wo er selbst mit seiner Familie wohnte. Eingetragen ist auch sein Beruf: Buchdruckereibesitzer. Das war mir neu. Meine Familie hat also schon länger mit Büchern zu tun. Ein schöner Gedanke. Ich wusste nur, dass mein Urgroßvater in den Zwanzigerjahren im Kolonialwarenladen seines Vaters mitarbeitete, in dessen Hinterzimmer eine Sonntagszeitung gedruckt wurde. Mehr finde ich jedoch leider nicht heraus, weder über die Zeitung, noch über die Druckerei.

Als nächstes suche die die Orte auf, die ich in den alten Adressbüchern gefunden habe.

Die Straßen haben heute polnische Namen, aber im Internet gibt es eine Seite, auf der die heutigen Namen der alten deutschen Straßen aufgelistet sind. Der Laden meiner Ururgroßeltern befand sich im Süden der Stadt, wo fast alle Häuser in den letzten Kriegswochen zerstört wurden. Hier stehen Neubauten, es gibt keine Spuren der Vergangenheit mehr. Auch die Schlosserei der Familie meines Urgroßvaters, seit Generationen in der Kleinen Groschengasse, von wo aus auch Arbeiten am Breslauer Dom durchgeführt wurden, steht nicht mehr. Das Grundstück wird jetzt als Parkplatz genutzt. Doch das gegenüberliegende Haus, in dem damals eine Gaststätte war, steht noch. Ein hübscher kleiner Laden ist darin, ich kaufe mir aus Sentimentalität ein T-Shirt.

Schade, dass auch die Stadtbibliothek, in der meine Großmutter als junge Frau arbeitete, nicht mehr existiert. Fündig werde ich hingegen im Norden der Stadt. Die Wohnung, in der meine Mutter die ersten drei Jahre ihres Lebens verbrachte, existiert noch. Und auch das hübsche kleine Haus in Carlowitz, in dem meine Oma aufwuchs, das frisch renovierte mit der gelben Fassade. In der Klosterschule, die sie besuchte, leben noch immer Nonnen. Allerdings nur in einem kleinen Seitenflügel des Gebäudekomplexes, der Rest wird gerade zu modernen Wohnungen umgebaut. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, zugleich traurig und beglückend, vor diesen Häusern zu stehen und in Gedanken in der Zeit zurückzureisen, mir vorzustellen, wie meine Großmutter als kleines Mädchen, den Ranzen auf dem Rücken, zum „Lyzeum der Ursulinerinnen“ lief oder wie meine Mutter als Kleinkind auf dem Arm meines Großvaters durch die Schrebergärten hinter dem Haus ans Oderufer getragen wurde.

Auf den Spuren der deutschen Vergangenheit in Breslau kann man nach Ladenlokalen Ausschau halten, über denen die Farbe abblättert, sodass der alte deutsche Name zum Vorschein kommt. Besonders leicht fündig wird man im Stadtteil Nadodrze, wo sehr viele Häuser noch nicht saniert sind. Hier hat Steven Spielberg die Straßenszenen für seinen Film „Bridge of Spies“ gedreht, der im Berlin des kalten Kriegs spielt.

Ich schlendere durch die Straßen und entdecke den Hinweis auf eine Schmiede, auf ein Geschäft für Fußbekleidung, sowie ein altes Gaststättenschild. Besonders freue ich mich über den Schriftzug „Kolonialwaren“ über der Tür eines leerstehenden Hauses. Es ist nicht der Laden meiner Ururgroßeltern, aber ich habe das Gefühl, mir nun ein bisschen besser vorstellen zu können, wie dieser früher ausgesehen hat.

Am letzten Tag meiner Reise in die Vergangenheit besuche ich den alten jüdischen Friedhof, der ganz in der Nähe der Stelle liegt, wo früher der Kolonialwarenladen meiner Familie war. Es ist der einzige große Friedhof aus deutscher Zeit, der noch existiert, und ein verwunschener, beinahe magischer Ort. Obwohl viele Grabsteine brüchig oder umgefallen sind, sieht man doch, dass die Anlage gut gepflegt wird. Es ist ein sonniger, warmer Frühlingstag, ich schlendere über die Wege und bemerke mit Dankbarkeit, dass keiner der Menschen, die hier beerdigt sind, nach 1925 starb. Von dem Grauen, das danach kam, hat zum Glück niemand von ihnen etwas mitbekommen.

Als ich am nächsten Morgen abreise, spüre ich, wie eine Last von meinen Schultern fällt. So spannend diese Reise in die Vergangenheit war, so bedrückend war sie auch. Jetzt kann ich den Blick wieder nach vorn richten, zumindest so lange, bis ich das Buchprojekt in Angriff nehme. Ich freue mich auf das Riesengebirge, mein nächstes Reiseziel, wo noch Reste von Schnee auf den Gipfeln liegen und wo, davon bin ich fest überzeugt, Rübezahl unbeirrt Wache hält.