Europa

Londons Wasserwelten

Ein Spaziergang am Regent’s Canal in London.

London hat so viele verschiedene Gesichter, so viele schrille und stille, moderne und marode Ecken, dass man ein tausendseitiges Buch darüber schreiben könnte und noch immer nicht alles erzählt hätte. Ich war schon sehr oft in der englischen Metropole, habe dort gelebt und studiert, dennoch kenne ich nur einen Bruchteil der Stadt wirklich gut. Deshalb wollen Martin Conrath und ich uns auf dem Kurztrip im März 2022 eine zentrale Londoner Lebensader genauer anzuschauen, den Regent’s Canal, den man fast vollständig entlang des ehemaligen Treidelpfads ablaufen kann.

Der Kanal wurde 1820 fertiggestellt und bildet den letzten Nebenarm des 220 Kilometer langen Great Union Canals, über den früher Waren aus dem Norden Englands in die Hauptstadt transportiert wurden, und umgekehrt. Der vierzehn Kilometer lange Wasserweg beginnt am Paddington Basin hinter der Paddington Station und umschließt das nördliche Zentrum von London in einem Bogen, bis er schließlich nach der zwölften Schleuse im Limehouse Basin endet und von dort über Schleuse Nummer dreizehn in die Themse mündet. Damals wie heute war der Kanal zugleich Lebensader und Lebensraum. Ganze Familien lebten auf den Narrowboats, den schmalen Lastkähnen, die als Warenlager und Wohnung dienten. Es gab sogar eine spezielle Schule für die Kinder der Kanalschiffer. Auch heute leben Menschen auf den liebevoll restaurierten Kähnen, insgesamt 5.000 soll es davon in London geben, Tendenz steigend. Ein großer Teil davon schippert auf dem Regent’s Canal auf und ab, denn wenn man seinen Anlegeplatz regelmäßig wechselt, spart man teure Liegegebühren.

Da wir ein Hotel ganz in der Nähe der Paddington Station gebucht haben, ist es für uns nicht weit bis zum Ausgangspunkt der Route. Wir schlendern am Paddington Basin entlang, das von modernen Wohnblöcken gesäumt wird. Die Attraktion hier sind zwei Brücken. Die eine öffnet und schließt sich wie ein Fächer, die andere kann aufgerollt werden. Nach einem kurzen Spaziergang erreichen wir den Startpunkt der Tour, den Stadtteil Little Venice, der sich an der Kreuzung Paddington Arm und Regent’s Canal befindet. Es ist März, ein Hauch von Frühling liegt in der Luft, vor den weißen Villen der teuren Wohngegend blühen Magnolien, Weiden lassen ihr zartes Grün ins Wasser hängen, auf dem Enten und Schwäne umhergleiten.

Wir wechseln hier das Verkehrsmittel, steigen in ein Narrowboat, das uns nach Camden bringt. Es geht es entlang traumhaft schöner Villen und malerischer Gärten, bis wir den Zoo erreichen. Die Afrikanischen Wildhunde, die ihr Gehege direkt am Wasser haben, lassen sich jedoch nicht blicken. Dafür passieren wir zahlreiche liebevoll restaurierten Kähne. Liegestühle, Blumentöpfe und Fahrräder an Deck gewähren uns einen kleinen Einblick in das Leben ihrer Bewohner. Viel zu schnell gelangen wir an die erste Schleuse des Kanals, Camden Lock, wo die Fahrt endet.

Der berühmte Markt ist längst kein Geheimtipp mehr, sondern eine lukrative Touristenattraktion, aber er besitzt noch immer Charme. Und es gibt tolles Streetfood aus aller Herren Länder. Wir stärken uns mit köstlichen Samosas, bevor wir unsere Tour fortsetzen.

Das nächste Ziel liegt hinter dem Bahnhof St. Pancras.

Ein ehemaliger Friedhof, rund um die Kirche St. Pancras Old Church. Ein Gedenkstein erinnert hier an Mary Wollstonecraft, Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Mutter von Mary Shelley. Mary, die Autorin von „Frankenstein“ und der Dichter Percy Bysshe Shelley trafen sich angeblich heimlich am Grab von Marys Mutter, als dieser noch verheiratet war. Als beliebtes Fotomotiv in dem kleinen Park dient der Hardy Tree, an den malerisch, alte Grabplatten gelehnt sind, die beim Ausbau des Gleisnetzes hinter dem nahen Bahnhof weggeräumt werden mussten.

Vom Friedhof aus ist es nur ein Katzensprung unter den Gleisen hindurch und über eine Fußgängerbrücke auf die andere Seite des Kanals, wo der Coal Drops Yard liegt. Früher wurde hier die Kohle aus Yorkshire umgeladen, heute sind die riesigen alten Lagerhallen zu einem modernen Einkaufszentrum umgebaut. Neben Shops und Cafés findet man hier ebenfalls einen Markt. Uns interessiert aber vor allem „Word On The Water“, ein kleiner Buchladen auf einem Kanalboot. Als wir ankommen wird der Laden gerade geöffnet. Wir setzen uns auf die Mauer, genießen die Wärme der Sonne und schauen zu, wie der Buchhändler sein „Schaufester“ auf Deck mit Ware füllt. Im Inneren des Kahns gibt es nicht nur Regale voller Bücher, sondern auch einen Papagei zu bestaunen.

Nur wenige Minuten Fußweg entfernt befindet sich in einem Seitenbecken das Canal Museum, in dem man viel über die Geschichte des Kanals erfährt, und auch über die Menschen, die von ihm und auf ihm gelebt haben. Es liegt im ehemaligen Haus eines Eishändlers, der London mit Gletschereis aus Norwegen versorgte, als es noch keine Kühlschränke gab. Einen Teil des riesigen Kellers, in dem das Eis gelagert wurde, kann man ebenfalls in dem Museum bestaunen.

Den knapp einen Kilometer langen Islington Tunnel überspringen wir mit dem Bus und laufen den Treidelpfad ab Hoxton weiter. Im Kingsland Basin haben einige Kanalbewohner ein kleines Biotop geschaffen mit Gemüsegarten und brütenden Wasservögeln. Nur ein kleines Stück weiter auf Höhe des Haggerston Parks lohnt es sich, sonntags einen Abstecher nach Süden zum Columbia Road Flower Market zu machen. Es locken Farbenpracht an den Ständen auf der einen, skurrile Antiquitäten, originelle Souvenirs und feiner Kaffee in den Shops auf der anderen Straßenseite.

Zurück am Kanal ist es ein malerischer Spaziergang bis zum Victoria Park. Immer wieder läuft man an den bunt bemalten Narrowboats vorbei, die Bebauung wechselt zwischen Industrie und Häusern mit malerisch gelegenen Gärten. Immer wieder laden Cafés zu einer Verschnaufpause ein, und wir machen reichlich Gebrauch von dem Angebot. Im Limehouse Basin angekommen tun uns die Füße weh, aber wir sind ganz begeistert von der abwechslungsreichen Tour. Um uns zu erholen, gönnen wir uns einen weiteren Kaffee und ein Stück Kuchen im nahegelegenen Yurt Café, einem Café der gemeinnützigen Royal Foundation of St Katharine, das sich tatsächlich in einer Jurte befindet. Ein wunderbarer Abschluss für einen spannenden Tag voller neuer Eindrücke.